Landtagswahlen in Ostdeutschland – drüber gesprochen

Einige Methoden der qualitativen Politik- und Sozialforschung können die Gründe und Hintergründe demoskopischer Ergebnisse erhellen – so auch die aktuellen Wahlpräferenzen zu den Landtagswahlen im Osten. Bürgerinnen und Bürger können ihre Sicht auf die Dinge in eigenen Worten erklären und ihre Meinung mit Argumenten vertreten. Gerade Menschen in Ostdeutschland sind in vielfältiger Hinsicht unterrepräsentiert und man redet über sie, statt mit ihnen.
Die qualitative Politik- und Sozialforschungsabteilung von Ipsos hat deshalb in einer Eigenstudie zwei Online-Gruppendiskussionen in den beiden ostdeutschen Bundesländern durchgeführt, die diesen Herbst bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland als erstes wählen: Sachsen und Thüringen. Am 05. und 06. August 2024 fanden jeweils eine 2-stündige Fokusgruppe (mit 6 bis 7 Teilnehmenden, bestehend aus Wahlbeteiligten) in Thüringen und Sachsen statt.
Ziel war es zu verstehen, wie die Menschen auf die Landtagswahlen im Osten blicken. Wir haben im Nachfolgenden Erkenntnisse zu drei zentralen Themen zusammengefasst.
1) Brandmauer erhält bei den Landtagswahlen im Osten aus vielfältigen Gründen kaum Zuspruch
Fehlendes Wissen macht Brandmauer bedeutungslos. Die Bedeutung der Brandmauer im politischen Kontext und so auch bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland ist unbekannt: In den Diskussionen wurde schnell klar, dass der Begriff keineswegs allgemein bekannt ist oder in seiner Bedeutung erfasst wird. Zudem verläuft die Diskussion über die Brandmauer ohnehin teils ins Leere, weil nicht allgemein bekannt ist, dass die AfD als gesichert rechtsextrem eingeordnet wird und was dies überhaupt konkret bedeutet.
Also mit dem Begriff habe ich mich jetzt nicht auseinandergesetzt, muss ich sagen. [...] Aber so Begrifflichkeiten, weiß ich nicht, sagt mir jetzt nichts. (Sandra, 38 Jahre, Sachsen)
Das Ende der Brandmauer sei aus Sicht eines Teils der Teilnehmenden positiv, da sachlicher Austausch statt Ideologie bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland in den Vordergrund rücken könnte. Die Brandmauer galt als Symbol der „ideologischen“ Interessen der Parteien, wurde von einem Teil der Befragten aber nicht im Sinne der Bürger:innen oder der Demokratie verstanden.
Ich halte es immer schlecht für eine Demokratie, wenn man nicht miteinander redet. Das heißt ja nicht, dass man zum Konsens kommen muss, aber es absolut abzutrennen und überhaupt nicht in die Diskussion zu gehen, halte ich für extrem gefährlich. Das hat für mich ein bisschen autokratische Grundzüge. Also Demokratie heißt für mich auch, okay, man muss Probleme auch angehen und auch dem anderen vielleicht mal zuhören. (Thomas, 50 Jahre, Sachsen)
Wenn es zum Beispiel heißt: 'Mit Zustimmung der AfD wurde der gewählt oder das durchgesetzt', da geht es nicht um die sachliche Sache, sondern das ist ganz schlimm, dass es mit der AfD, mit Stimmen von der AfD durchgesetzt wird. Es geht nicht mehr um das Sachziel, sondern es geht nur / das, was die sagen, ist grundsätzlich falsch. Wir kümmern uns gar nicht um den Inhalt des Problems. (Helga, 59 Jahre, Sachsen)
Aus Sicht eines Teils der Teilnehmenden müssen Parteien im Rahmen der Landtagswahlen in Ostdeutschland das Ende der Brandmauer versprechen, um Mehrheiten zu schaffen.
Ich bin mir sicher, irgendwann fällt jede Brandmauer, wenn man mal so die letzten 40 Jahre Politik mal nachverfolgt. Früher waren sie auch alle gegen die Grünen. Heute arbeiten sie mit den Grünen. (Norbert, 33 Jahre, Sachsen)
Aus Sicht eines Teils der Teilnehmenden erscheint in Zuge der Landtagswahlen im Osten eine Regierungsbeteiligung der AfD auf kurz oder lang unausweichlich.
Einer ist der Erste. Einer ist der Letzte. Einer ist der Größte. Einer ist der Kleinste. Das könnten wir jetzt weiterführen. Aber irgendjemand wird irgendwann wahrscheinlich anfangen. Und die Randgebiete oder die Randbundesländer Richtung Osten, die haben auch ein hohes Potenzial, um das als erstes zu tun. (Michael, 41 Jahre, Thüringen)
2) Verhandlung von Bundespolitik auf Landesebene: Gebrochene Versprechen bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland vorprogrammiert?
Die Bürger:innen in unseren Gruppendiskussionen artikulierten teils, dass der Frieden in der Ukraine nicht in Thüringen und Sachsen die ostdeutschen Landtagswahlen entschieden wird. Aber: Die Vertretung bundespolitischer Themen auf Landesebene sei ein Versprechen, dass sich die Landespolitiker:innen auf Bundesebene einsetzen werden, indem sie für eine andere Haltung als die des Bundes eintreten.
Wenn das BSW sagt, wie du schon sagst: (lacht) 'Herr Kretschmer, fahr mal nach Moskau', das wird nicht funktionieren. Aber mir geht es um eine grundsätzliche Einstellung zu den Kriegsparteien, ob das die Ukraine ist oder auch Russland, wie sie da steht. (Thomas, 50 Jahre, Sachsen)
Die Parteien die für die Landtagswahlen im Osten aufgestellt sind, überschreiten die Kompetenzen der Landesregierung und können so zu einer weiteren Entfremdung von der Politik beitragen. Gebrochene Politikversprechen werden von den Bürger:innen in unseren Fokusgruppen als einer der Gründe für fehlendes Vertrauen in die Politik benannt. Gleichzeitig werben die Parteien auf Landesebene auch mit Bundesthemen wie der Außenpolitik (z. B. Krieg und Frieden) oder dem Mindestlohn - und befördern damit genau diesen Vertrauensverlust.
Wem vertraut man denn überhaupt noch? Oder wem soll man vertrauen? Wem soll man glauben? Jeder stellt sein Wahlprogramm vor. Jeder behauptet von sich, ich bin der Beste. Ich mache es besser als der Vorgänger oder die Vorgängerin. Man wird natürlich mit tollen Worten umgeben und tollen Sätzen und Vorhaben. Aber letztendlich weiß ich ja nicht / Irgendwie kommt da nicht immer Gutes bei raus. Egal, nach jeder Wahl, in was für eine Richtung es geht, es kommt nicht das an, was versprochen wird. (Sandy, 42 Jahre, Thüringen)
3) Szenarien nach den Landtagswahlen in Ostdeutschland: Kein gutes Ende in Sicht
Rund um die Landtagswahlen im Osten dominiert die Sorge vor politischem Stillstand und Chaos - insbesondere die derzeitige Thüringer Minderheitsregierung gibt Anlass zur Sorge um die Lösungskompetenz einer künftigen Regierung.
Ich möchte in Sachsen keine Thüringer Verhältnisse haben. Ich möchte, dass Sachsen weiterhin eines der oder das führende ostdeutsche Bundesland ist, was die wirtschaftliche Entwicklung, was die Wahrnehmung, was den Ruf und so weiter betrifft. Und Thüringen ist für mich gerade / oder wenn man das so beobachtet, Chaos. Da sind sieben Parteien oder acht Parteien, die sich alle gegenseitig blockieren. Du hast eine Minderheitenregierung, die machen gar keine Sachpolitik mehr. (Martin, 46 Jahre, Sachsen)
Es ist schon ziemlich katastrophal. Alles durcheinander. Es bereitet einem Kopfschmerzen. Man weiß nicht, was kommt. Jeder möchte, glaube ich, nur das Beste für alle. Aber irgendwie endet es immer in einer reinen Katastrophe. Man blickt gerade teilweise gar nicht mehr durch. Also, mir geht es zumindest so. Jeder stellt sich natürlich immer von seiner Schokoladenseite vor. Ja. Es ist für mich das reinste Chaos geworden in den letzten Jahren. Mehr kann ich da erst mal gar nicht zu sagen. (Sandy, 42 Jahre, Thüringen)
Überraschend: Welche Wahl die Teilnehmenden der Fokusgruppen bei den Landtagswahlen in Ostendeutschland treffen werden, steht nach deren Aussage noch nicht fest: Die Entscheidung wird sehr kurzfristig fallen - und auch taktische Überlegungen werden die Wahlentscheidung bis zum Schluss spannend machen. Taktisches Wählen bedeutet in diesem Fall: Um zu verhindern, dass die Länder in eine solche Situation mit sehr schwierigen Mehrheitsverhältnissen, vielen kleinen Parteien mit geringen Stimmenanteilen, geraten, wird in diesem Wahlkampf das taktische Wählen, wie es die Teilnehmenden nennen, besonders wichtig. Das heißt, man überlegt sich, eher große Parteien zu wählen, um der Zersplitterung entgegenzuwirken.
Bei mir wäre es auch das Bauchgefühl, einfach. Gucken, welche Themen sind jetzt relevant für mich gerade. Kita, Schule würde ich auf jeden Fall darauf achten. Das ist halt bei uns präsent. Und dann halt auch so ein bisschen / So doof wie es klingt, das ist manchmal auch so Glücksache, was man z. B. auf dem Wahlzettel auch findet. Wenn der so lang ist, dann habe ich auch keine Lust, 20 Minuten zu suchen. Sondern dann gucke ich halt, was mir am nächsten passt. (Claudia, 34 Jahre, Thüringen)
Sie haben Fragen, beispielsweise zu den Teilnehmenden der Fokusgruppen?
Für weitere Informationen können Sie sich gerne an die beiden Moderatorinnen [email protected] oder [email protected] wenden.
Zu den Moderatorinnen
Dr. Anne-Marie Brack, geboren und aufgewachsen in Thüringen, studiert und promoviert in Freiburg, Isfahan, Princeton und Berlin. Sie forscht bei Ipsos zu Themen, die Politik und Gesellschaft bewegen: Migration, gesellschaftlicher Zusammenhalt, politische Teilhabe und Krisenerleben. Am qualitativen Forschen fasziniert sie besonders, die Vielstimmigkeit und Unterschiedlichkeit von Meinungen und Menschen in Deutschland zu ergründen.
Laura Wolfs arbeitet seit mehr als 10 Jahren als qualitative Forscherin und studierte an der University of Nottingham (UK) Modern European Studies (BA). Ihren Master in Osteuropastudien mit einem Fokus auf Wahl- und Demokratieforschung erlangte sie an der FU Berlin. Seit 2017 betreut sie bei Ipsos in erster Linie Forschungsprojekte öffentlicher Institutionen sowie Projekte der Medienforschung. Sie hat in den letzten Jahren vielfältige Studien in Ostdeutschland mit verschiedenen Wähler- und Einstellungsgruppen durchgeführt sowie Studien in ganz Deutschland zu politischer Kommunikation generell und Wahlen im Besonderen.
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