Vom Saulus zum Paulus: eine 180 Grad Käufer-Wandlung im Experiment

Was passiert, wenn ein Hardcore-Ablehner („Würde ich niemals kaufen.“) eines bestimmten Produktes durch das Produkterleben zu einem echten Fan wird? Würde er sich als solcher outen? Welche Argumente würde er nutzen, um andere Ablehner umzustimmen? Diesen und weitere Fragen widmet sich Natalie Schmidt in ihrem neuen Beitrag auf marktforschung.de.

Vom Saulus zum Paulus
Von Grau zu Blau - Was passiert, wenn aus Ablehnung Zustimmung wird?

 

Corona hat die qualitative Abteilung (IUU) von Ipsos dazu inspiriert, Produkt-Tests und Degustationen vermehrt online durchzuführen. Verfolgt wird hierbei die Prämisse „NO RISK NO FUN“: Die geouteten Neu-Advokaten treffen direkt nach dem Produkttest in Online-Diskussionsrunden (fast) unmoderiert auf hartnäckige Ablehner, um mit diesen frei über das Produkterleben zu sprechen. Im Gegenzug nehmen die Forscher im Webmeeting die stille Rolle des Beobachters ein und überlassen die Gesprächsführung den wahren Fans. Ein Experiment, das sich gelohnt hat!
 

Vom Ablehner zum Advokaten

Als Damaskuserlebnis wird umgangssprachlich die Begegnung des Paulus von Tarsus mit dem auferstandenen Jesus Christus auf dem Weg nach Damaskus bezeichnet. Dabei wurde Paulus vom Verfolger der Urchristen zum Apostel der Völker berufen. Im übertragenen Sinn bezeichnet das Damaskuserlebnis somit ein Ereignis, das einer Person eine einschneidende Selbsterkenntnis vermittelt, ihre Einstellungen und ihr Verhalten für sie zum Positiven wendet, ja oftmals sogar um 180 Grad dreht. Der Fokus unseres qualitativen Online-Ansatzes liegt auf einem ebensolchen Wendepunkt, allerdings in Bezug auf das Produkterleben: Wann genau erfolgt also die Wandlung vom Ablehner zum Advokaten?
 

Weitermachen, wo andere Produkttests aufhören

Wer kennt es nicht: Am Ende von quantitativen und qualitativen Produkttests finden wir oft Fragen wie „Würden Sie das Produkt kaufen?“, „Würden Sie das Produkt weiterempfehlen?“, „Würden Sie lieber eine weitere Verpackung des Produktes oder den äquivalenten Geldwert bekommen?“ – versehen mit dem Hinweis, dass die Antworten möglichst ausführlich zu begründen sind. Hand aufs Herz, bei den Antworten fühlt man sich als Kunde und Forscher oft etwas unsicher. Im Hinterkopf schwingt immer ein leichter Zweifel mit: Ist der Konsument vielleicht nur aufgrund der sozialen Erwünschtheit mit einem Produkt zufrieden? Würde er es wirklich kaufen oder gar weiterempfehlen, oder sagt er das nur so? Und WENN er es tatsächlich weiterempfiehlt: Wie flammend und leidenschaftlich wäre seine Rede? Und wem würde er es guten Gewissens empfehlen. Auch einem Fremden? Was wären seine Argumente? Was begeistert plötzlich an dem Produkt?

Das Saulus-Paulus-Experiment macht dort weiter, wo klassische Produkttests – sei es quantitativ oder qualitativ – oft aufhören. Das Experiment geht nach dem Produkttest und der Abschlussbewertung weiter beziehungsweise fängt dann erst an, richtig interessant zu werden. Die prototypischen Schritte unseres Saulus-Paulus-Experiments sehen im Einzelnen wie folgt aus:

Klassiker, Outing, Wandlung

 

Die Klassiker

  • Schritt 1: Zweiwöchiger Home-Use-Produkttest mit Ablehnern/Nicht-Verwendern
  • Schritt 2: Regelmäßiges Feedback zum Produkterleben via qualitativer Online-Community
  • Schritt 3: Abschlussbeurteilung des Produktes (Fragebogen, Chats, Fokusgruppen etc.)

Das Outing und die Bewerbung

  • Schritt 4: Das Outing (ehemalige Ablehner/Nicht-Verwender outen sich als Neu-Fans)
  • Schritt 5: Die Neu-Fans erstellen eine Bewerbung als Produkt-Advokat

In unserem Use-Case haben Ablehner von einem bestimmten Zahnpasten-Format am Ende eines vierwöchigen Produkttests die Frage bekommen, ob sie lieber ein Jahresabo dieser Zahnpasta hätten oder zusätzliche 50 Euro Incentive (wichtig ist, die Höhe der Incentives wirklich attraktiv zu gestalten). Diejenigen, die sich für das Produkt entschieden haben, wurden danach gefragt, ob Sie sich gerne als Produkt-Advokat bewerben und damit als Neu-Fan vor anderen eingefleischten Ablehnern outen möchten, um diese zu missionieren – ihnen Rede und Antwort zu stehen.

Wie wird man Produkt-Advokat? Man erstellt kleine V-Logs, die erzählen, wie sich das neue Zahnpasta-Format in das Leben des Neu-Fans (ehemals Ablehner) einfügt. Diese V-Logs werden im Idealfall noch um ein bis zwei Testimonials aus den eigenen Reihen (z. B. Familie) ergänzt. Das kann beispielsweise die Tochter sein, die unsere Test-Zahnbürste ebenfalls genutzt hat. Ein Fake-Insta-Post fasst dann nochmals zusammen, warum man gerne anderen Konsumenten von seinen Erfahrungen erzählen möchte.

Instagram Post

 

Das Wandlungs-Experiment

  • Schritt 6: Die Neu-Produkt-Advokaten treffen auf ‚frische‘, eingefleischte Ablehner/Nicht-Verwender
  • Schritt 7: Die Neu-Advokaten teilen ihre Erfahrung, stehen Rede und Antwort
  • Schritt 8: Schaffen die Neu-Advokaten weitere Wandlungen? Wenn ja, wodurch?

Das jüngste Gericht trifft zusammen – online, nicht im Himmel. Der ausgewählte Produkt-Advokat trifft im Rahmen einer live Online-Diskussionsrunde auf weitere eingefleischte Ablehner dieses Zahnpasta-Formats. Zuerst bleibt der Produkt-Advokat im Hintergrund und den eingefleischten Ablehnern wird ein Produktkonzept präsentiert. Dieses können Sie untereinander diskutieren und ihre Fragen/Zweifel sammeln. Dann wird der Produkt-Advokat zugeschaltet und übernimmt die Moderation der Online-Gruppe. Er fängt an von seinen Erlebnissen zu berichten, erzählt erlebte Geschichten, geht auf die Fragen und Zweifel der Ablehner ein, holt sich seine Testimonials zur Hilfe. Die Diskussion entwickelt sich zwischen den Teilnehmern, der Forscher spielt keine tragende Rolle, greift nur ein, wenn nötig und hält sich ansonsten zurück.
 

Experiment mit Blick in die Zukunft

Das Wandlungs-Experiment erfreut sich bei unseren Konsumenten-Teilnehmern und Kunden größter Beliebtheit, da es einen entscheidenden Vorteil gegenüber den klassischen, altbekannten Schritten bietet: Es hört nicht bei der Ex-post-Beurteilung des Erlebten auf, sondern blickt in die Zukunft. Es zeigt auf, welche Argumente Neu-Advokaten verwenden, um hartnäckige Ablehner/Nicht-Verwender von ihrem positiven Produkt-Erlebnis zu berichten und welche dieser Argumente am besten räsonieren. Neu-Advokaten erzählen Geschichten aus dem echten Leben, sind nahbar und authentisch, kommunizieren auf Augenhöhe mit den Nicht-Verwendern/Ablehnern. Und sind dadurch manchmal glaubhafter als manch ein verbales Produkt-Konzept, das versucht, neue Kundenschichten von der Attraktivität eines Produktes zu überzeugen. Durch diese Art der Interaktion werden neue Energien auf Seiten der Konsumenten freigesetzt und wir können besser verstehen lernen, welche Treiber sie wirklich bewegen oder welche Geschichten für eine Kommunikations-Kampagne wertvoll sein können. Worüber sich die Konsumenten austauschen, wenn man sie denn lässt und nicht direkt durch vordefinierte Fragen zu Tode moderiert oder gar in eine Richtung lenkt…manchmal wird eben nicht als erstes über die Reinigungsleistung der Zahnpasta gesprochen, sondern über die Optik der Tube oder wie gut mein Partner den Atemgeruch findet.

Das Wandlungs-Experiment hilft, Produkte nahbarer zu machen – und herauszustellen, was die Konsumenten wirklich bewegt. Denn das, was Teilnehmer von Produkttests manchmal ankreuzen und das, was sie in ihrem Alltag tatsächlich tun oder sagen, sind oftmals zwei komplett unterschiedliche Paar Schuhe (Stichwort: Say-Do Gap). So konnte in unserem Zahnpasta-Konzept die Priorität der einzelnen Benefits komplett umsortiert und umformuliert werden und ergänzt durch überzeugende Insights zu einem Top-Score-Quant-Konzept umgearbeitet werden. Ein Produkt-Konzept, welches vorher mehrmals scheiterte, gewann plötzlich an Relevanz und Glaubwürdigkeit.

Der Beitrag ist ursprünglich am 08.11.2022 auf marktforschung.de erschienen.

 

Über die Person

Natalie SchmidtNatalie Schmidt ist Director in der qualitativen Marktforschung bei Ipsos und hier zusammen mit ihrem Team vor allem in den Bereichen Produkt-, Kommunikations- und Innovationsforschung tätig.

Konsumenten & Shopper